Entfesselte Freiheit und Geld sind nicht genug. Plädoyer für einen neuen Bürgersinn
Während der Hitler-Zeit haben wir uns nach dem Rechtsstaat gesehnt, nach Freiheit und Gerechtigkeit. Hier, im östlichen Teil Deutschlands, hat man noch vierzig Jahre länger auf diese Segnungen warten müssen.
Schließlich war es eines Tages für uns alle soweit; doch nun entdecken wir, daß zwar die Voraussetzungen gegeben sind: Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Pluralismus, daß die Gesellschaft aber keineswegs so ist, wie wir sie uns gewünscht haben und wie wir sie auch nach dem Ende der totalitären Regime für selbstverständlich hielten.
Warum ist das so? Was fehlt denn? Worauf haben wir all die Zeit gewartet? Antwort: Auf die civil society, eine zivile Gesellschaft also. Aber was wir bekamen, ist eine reine Konsumgesellschaft, manche sagen, eine Raff-Gesellschaft.
Ich glaube, wir müssen uns über eins klar sein: Liberalismus und Toleranz, die Vorbedingungen der civil society, sind dem Menschen nicht von Natur aus angeboren, er muß erst dazu erzogen werden, durch Elternhaus, Schule und Gesellschaft. Die Eigenschaften Liberalismus und Toleranz wie auch die Bürgergesellschaft sind ein Ergebnis der Zivilisation. Erst die Aufklärung, der Ausbruch aus der, wie Kant sagt, “selbstverschuldeten Unmündigkeit”, hat die Voraussetzungen für die Bürgergesellschaft geschaffen.
Rule of law, Gewaltenteilung, Pluralismus und Offenheit sind zwar Voraussetzungen, aber sie allein genügen nicht. Es kommt darauf an, was die Bürger daraus machen, auf ihre Gesinnung kommt es an, auf ihr Verhalten und darauf, wie sie ihre Prioritäten setzen. Also: Nicht nur die Regierungen tragen die Verantwortung, jeder einzelne Bürger ist für das Ganze mitverantwortlich.
Die Gesinnung der Bürger, das Klima in der Gesellschaft, hat sich in den verschiedenen Epochen immer wieder gewandelt. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert war Europa – ganz Europa – ein geistiger Raum, zu dem selbstverständlich Petersburg, Krakau und Prag genauso gehörten wie Rom oder Paris. Damals war Deutschland das geistige Laboratorium Europas, hier war die Heimat von Albert Einstein und Karl Marx, jenen Männern, die die Welt veränderten.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehen dann Wissenschaft, Technik und die großen Erfindungen im Vordergrund. Und nun, in unserer Zeit, nach den beiden Weltkriegen, die so viel zerstört haben, sind es wirtschaftliche Interessen, auf die der Ehrgeiz gerichtet ist: GNP, Produktion, Handel und vor allem Geld. Deutschland ist von einer Kulturnation zu einer Konsumnation geworden.
Noch einmal die Frage: Warum ist unsere Gesellschaft so unbefriedigend, obgleich heute alles, was einen Rechtsstaat ausmacht, gewährleistet ist? Warum treten die Leute aus der Kirche aus? Warum verlieren Parteien und Gewerkschaften angestammte Mitglieder? Warum schimpfen die Bürger auf die Politiker und die Politiker auf die Medien? Kurz gesagt: Warum so viel Frust, wo es doch den meisten so gut geht wie nie zuvor?
Natürlich gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Wir stehen zweifellos an einer Zeitenwende, die durch Globalisierung, Computertechnologie und elektronische Informationspraktiken gekennzeichnet ist und die wahrscheinlich größere gesellschaftspolitische Veränderungen verursachen wird als seinerzeit das Hereinbrechen des technischwissenschaftlichen Zeitalters.
Wir sehen also einer Zeit neuer Ungewißheiten entgegen, und das macht angst. Im übrigen, was soll werden, wenn die Arbeitslosigkeit unaufhaltsam wächst, wenn Betriebe nur rentabel werden, indem sie Arbeiter entlassen, Städte nur saniert werden können, wenn sie Angestellte auf die Straße setzen? Ferner die quälende Frage: Was wird aus Rußland werden – drohen neue Gefahren im Osten?
Konkrete Probleme hat es immer gegeben. Heute aber gibt es noch etwas anderes, etwas Unwägbares, ganz und gar Unkonkretes, was die Menschen bedrückt, oft ohne daß sie sich darüber Rechenschaft geben. Alles Metaphysische, jeder transzendente Bezug ist ausgeblendet, das Interesse gilt ausschließlich dem wirtschaftlichen Bereich: Produzieren, Konsumieren, Geldverdienen. Eine Zeitlang war das ganz schön, aber dann spüren plötzlich viele: Dies kann doch nicht der Sinn des Lebens sein.
Allen großen Umbrüchen in der Geschichte sind neue philosophische Erkenntnisse vorausgegangen: Ohne Montesquieus Ideen ist die Französische Revolution nicht denkbar und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung auch nicht. Unser Zeitalter dagegen hat keine geistigen Voraussetzungen. Es gab nur Ideologien, und die sind auch noch pervertiert worden: Die konservative durch Hitler, der alle Wertvorstellungen der Rechten ad absurdum geführt hat, und die der Linken durch Stalins Brutalisierung des Sozialismus. Was übrigblieb, ist die Marktwirtschaft.
Als Wirtschaftssystem ist die Marktwirtschaft unübertroffen. Für eine Sinngebung hingegen reicht sie wirklich nicht aus. Sie ist sehr possessiv. Die Marktwirtschaft beansprucht den Menschen ganz und duldet keine Götter neben sich. Ihr Wesen ist der Wettstreit und ihr Motor der Egoismus: Ich muß besser sein, mehr produzieren, mehr verdienen als die anderen, sonst kann ich nicht überleben. Die Konzentration auf dieses Prinzip hat dazu geführt, daß alles Geistige, Kulturelle an den Rand gedrängt wird und schließlich immer mehr in Vergessenheit gerät.
Dieser Zustand ist im wesentlichen auf das Zusammenwirken von Säkularisierung und Kapitalismus zurückzuführen, aber es wäre grundverkehrt, nun zu meinen, man könne die Säkularisierung rückgängig machen – das ist unmöglich. Allerdings ist in den letzten zweitausend Jahren die Religion schon mehrfach abgeschafft worden, das letzte Mal zugunsten der Vernunft während der Aufklärung. In Notzeiten aber haben die Menschen sich ihrer dann erinnert und ihr den legitimen Platz wieder eingeräumt.
Was den Kapitalismus und die Marktwirtschaft angeht, so muß man sie unter allen Umständen erhalten und sie nicht abschaffen wollen – sie müssen nur sozusagen zivilisiert werden. Grenzen müssen gesetzt werden: Freiheit ohne Selbstbeschränkung, entfesselte Freiheit also, endet auf wirtschaftlichem Gebiet zwangsläufig in einem Catch-as-catch-can und schließlich in dem Ruf nach einem “starken Mann”, der alles wieder richten soll. Im Osten, wo man dies – am deutlichsten in Rußland – beobachten kann, hat man gesehen, daß es keinen Sinn macht, im Kopfsprung aus einer gelenkten Wirtschaft in die freie Marktwirtschaft zu springen und aus einer autoritären Gesellschaft in eine permissive society.
Notwendig ist, daß zuvor gewisse politische Strukturen gesetzt werden. Sonst ist die Folge – wie Rußland zeigt – das Überhandnehmen der Mafia, denn die Rücksichtslosen, die Schlitzohren und die potentiellen Verbrecher, das sind diejenigen, die sich als erste bedenkenlos bedienen.
Aber nicht nur im Osten, auch im Westen sehen wir die Folgen einer Lebensweise, die nur auf den Eigennutz gestellt ist, ohne Verantwortung für das Ganze. Eine Entfesselung aller Begierden ist unvermeidlich: Nie zuvor hat es so viel Korruption bis in die höchsten Kreise gegeben, überall in Europa werden Minister wegen Korruption aus den Kabinetten entlassen, in Italien wurde ein Ministerpräsident zu acht plus fünf Jahren verurteilt, und in Deutschland wird zur Zeit gegen 1860 Ärzte wegen Bestechlichkeit ermittelt. Der Oberstaatsanwalt von Frankfurt am Main erklärte kürzlich, daß in seinem Amtsbezirk seit 1987 1500 Manager und höhere Beamte (meist solche, die für die Erteilung von Genehmigungen zuständig sind) wegen Bestechlichkeit untersucht wurden.
Erst vor vierzehn Tagen wurden der Vorstandsvorsitzende von Thyssen und fünf Personen aus der obersten Etage des Konzerns wegen Korruptionsverdachts verhaftet und nur gegen Kaution wieder freigesetzt. Und in Recklinghausen wurde in dieser Woche der vierzehnte Mitarbeiter der Stadtverwaltung wegen des Vorwurfs der Bestechlichkeit festgenommen.
Das normale Rechtsempfinden, das Gefühl für das, was man tut und nicht tut, ist durch das Fehlen ethischer Grundsätze und moralischer Barrieren so verkümmert, daß man sich fragen muß: Kann eine Gesellschaft unter solchen Umständen überhaupt leben?
Zu allen Zeiten hat es stets jenseits des sachlich-positivistischen etwas gegeben, was die Gesellschaft zusammenhielt. In den primitiven Gesellschaften waren es der Ahnenkult oder irgendwelche Traditionen, später dann Religion oder das Bewußtsein gemeinsamer Kultur. In jedem Fall gab es immer etwas, das Verhaltensnormen schaffte, denn ohne sie kann eine Gesellschaft nicht existieren.
Ohne einen ethischen Minimalkonsens wird auch die Brutalisierung des Alltags immer weiter zunehmen; schon heute vergeht kein Tag, an dem die Zeitungen nicht berichten, daß jemand erschossen worden ist, weil er irgendeinem im Wege stand. Oder daß Kinder einen Obdachlosen töteten, um mal zu sehen, wie das ist, oder Halbwüchsige einen Farbigen erschlagen, weil der angeblich hier nichts zu suchen hat.
Daß es so nicht weitergehen kann, ist klar, das Problem ist nur, auf welche Weise können ethische Werte wieder inthronisiert werden – Autorität hilft da wenig und Verordnungen auch nicht. Gibt es überhaupt noch ein potentielles Reservoir an Gemeinschaftsgefühl, das wieder aktiviert werden könnte?
Ich meine, jene Lichterketten, die Millionen von Bürgern bildeten, um gegen die Ausländerfeindlichkeit zu demonstrieren, beweisen, daß Solidarität sehr wohl aktiviert werden kann. Und auch das immer wieder laut werdende Verlangen nach Partizipation, nach mehr Teilnahme an Entscheidungen, macht dies deutlich. Denn es ist ja nicht so, daß die Bürger der Politik überdrüssig sind. Sie finden nur, daß die Politiker engagierter und entschiedener handeln sollten.
Eines allerdings muß man wissen. Es gibt kein System, das eingeführt, keine Aktion, die gestartet werden könnte, um die notwendige Bewußtseinsveränderung hervorzubringen. Sie kann nur durch die Bürger selbst zustande gebracht werden. Es kommt wirklich auf uns an, auf jeden einzelnen von uns.
Auszug aus der Dankesrede 1996, die Marion Gräfin Dönhoff in Dresden aus Anlaß der Verleihung des Erich-Kästner-Preises hielt.